Internet der Sündenbock

Aus dem Archiv: Einmaleins zu den 9/11-Verschwörungstheorien

Der Umgang mit neuen Medien verlangt neue Kompetenzen bei der Beurteilung von Informationen. Die Verschwörungstheorien zum 11. September haben Erfolg, weil das World Wide Web als Quelle für unzählige Halb- oder Unwahrheiten dient. Inhaltlich sind die Verschwörungstheorien in zwei, drei Sätzen beschrieben.

Marc Böhler, 29. Oktober 2003

Wer die gängigen Verschwörungstheorien über die Terror-Katastrophen jüngerer Zeit nicht kennt, läuft Gefahr, von einem Vertreter dieser Theorien oder von Conspiracy-Websites mit zahlreichen mehr oder weniger schlüssigen Argumenten und angeblichen Fakten bekehrt zu werden. Wer sich nicht ins Bockshorn jagen lassen möchte, tut gut daran, ein paar Dinge über die Verschwörungstheorien und deren Apologeten zu wissen.

Erstveröffentlichung von diesem Beitrag am 29. Oktober 2003 auf nzz.ch, damals «NZZ Online», dem Online News Angebot der Neuen Zürcher Zeitung. Marc Böhler war Online Redaktor bei der NZZ von Herbst 2000 bis Februar 2011. Eine medienhistorische Abhandlung aus dem Hause NZZ aus der Perspektive von Marc Böhler findet man in der Medienwoche: «Meine elf Jahre bei der NZZ Online»

Drei Szenarien

Bei der Einordnung der Katastrophe vom 11. September 2001 stehen grundsätzlich drei Varianten zur Verfügung.

Entweder die Ereignisse am 11. September 2001 haben sich so zugetragen, wie dies von offizieller Seite behauptet und von den Massenmedien portiert wird. Oder die amerikanische Administration hat genau Bescheid gewusst und die Dinge einfach geschehen lassen. Das dritte Szenario, worauf sich die Verschwörungstheoretiker hauptsächlich konzentrieren: die Terroranschläge auf die WTC-Türme wurden von amerikanischen Geheimdiensten geplant und verwirklicht.

Vier Propheten

Die wichtigen Vertreter der Verschwörungstheorien zu 9/11 stammen aus Europa. Drei aus Deutschland und einer aus Frankreich. Neben Andreas von Bülow, ehemaliger Forschungsminister unter Kanzler Schmidt, sind Gerhard Wisnewski, freier Journalist für den Westdeutschen Rundfunk und das ZDF und Mathias Bröckers, ehemaliger Redaktor der Berliner «taz» die drei massgeblichen Konspirologen aus Deutschland. In Frankreich gilt Thierry Meyssan als Oberpriester der Verschwörungstheoretiker.

Fünf Hauptinterpretationen

Alle vier haben erfolgreiche Bücher verfasst. Diese basieren auf suggestiven Verkettungen von Aussagen, Fakten, Ereignissen und durchaus vorhandenen Ungereimtheiten der offiziellen Erklärungen. Ihre Argumentationen lassen sich dabei auf fünf Hauptpunkte reduzieren:

  1. Am Ende des letzten Jahrhunderts formulieren geopolitische Strategen der gegenwärtigen amerikanischen Regierung eine neue Aussenpolitik, die mehr amerikanische Kontrolle im Nahen Osten und dazu militärische Initiativen und Interventionen verlangt. Um die von den USA geführten Kriege beim amerikanischen Volk zu legitimieren, müsse aber ein katalysierendes Ereignis geschehen.
  2. Die «Petronazis» (Bröckers) kommen in den USA an die Macht und wollen weniger Abhängigkeit vom Öl aus Saudiarabien. Afghanistan wird als Standort einer Ölpipeline für den Transport von schwarzem Gold aus dem Schwarzen Meer in Betracht gezogen.
  3. Die amerikanischen Geheimdienste lassen vier Personenflugzeuge ferngesteuert in symbolträchtige Gebäude des Landes stürzen. Flugschüler seien nicht fähig, ein Grossraumflugzeug in Hochhäuser zu steuern.
  4. Die WTC-Türme wurden zusätzlich von innen gesprengt. Von Bülow behauptet, Kerosin verbrenne zu wenig heiss, um eine Stahlkonstruktion zum Einstürzen zu bringen.
  5. Die 19 Männer, die als Attentäter deklariert wurden, sind selber Agenten verschiedener staatlicher Dienste, die von diesen bewusst geopfert wurden.

Internet als Leitmedium

Seit der Geburt des World Wide Web, und der damit einhergehenden explosiven Verbreitung der Internetnutzung, kursieren regelmässig verschiedenste Gerüchte, Legenden und eben auch Verschwörungstheorien zu fast allen erdenklichen Ereignissen. Solche Verschwörungen finden meist nicht den Weg in andere Massenmedien. Im Netz erhalten sie aber ein grosses Echo und es entstehen auch ständig zahlreiche neue Varianten.

In den Gründerjahren des Cyberspace galt unter den Internetsurfern daher die Devise, dass man einer Nachricht aus diesem neuen Medium erst vertrauen soll, wenn man sie selber überprüft habe.

Mit der massenhaften Verbreitung des Internets und dem Auftreten der klassischen Medien im World Wide Web hat das Netz vermeintlich an Glaubwürdigkeit gewonnen. So können sich verschwörungstheoretische Geschichten mit Erfolg im Internet-Publikum verbreiten, obschon diese Alternativwahrheiten hauptsächlich auf unzähligen, unverifizierten Quellen im Internet beruhen.

Das World Wide Web ist aber nicht als solches Schuld an der Verbreitung und am Erfolg solcher Verschwörungstheorien. Neue Medien verlangen neue Rezeptionskompetenzen. Sobald sich diese Medienkompetenz etabliert haben wird, werden auch reisserische und teils abstruse Verschwörungstheorien wieder dorthin verwiesen, wo sie hingehören. Verschwörungstheorien, die nicht mit seriösen Abhandlungen über allfällige Lücken der offiziellen Berichterstattung oder über ein mögliches Versagen der amerikanischen Geheimdienste gleichzusetzen sind.

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